Neapel 1
MIA BELLA NAPOLI
- sehen und sterben (Version A)
Neapel war schon ein Traumreise-Ziel vieler Mitteleuropäer, als es das Wort "Tourismus" noch gar nicht gab. "Napoli" – allein der Name klang verheißungsvoll: nach Sonne und blauem Meer, nach südländischer Lebensfreude. Auch Goethe konnte sich der Faszination nicht entziehen: "Neapel in seiner Herrlichkeit, die meilenlange Reihe von Häusern am flachen Ufer des Golfs hin, die Vorgebirge, Erdzungen, Felswände, dann die Inseln und dahinter das Meer war ein entzückender Anblick", schrieb der Dichterfürst im März 1787. Seither hat sich sicher viel verändert, aber die Herrlichkeit, die Goethe beschreibt, scheint unvergänglich zu sein.
Reportage (Radio hr3, 30.01.2000; hr4, 25.02.2006; hr-iNFO, 04.03.2006):
[Musik: "Mia bella Napoli" von Peter Kraus]
Nicht erst seit Peter Kraus gehört Neapel zu den meistbesungenen Städten. Kein Wunder. Auch mir genügt ein Blick von der Höhe des Castel Sant'Elmo, und ich bin dieser Stadt verfallen. "Million dollar view" würden die Amerikaner zu diesem Panorama sagen: Rechts das Meer mit den dunklen Silhouetten von Capri und Ischia, im Hintergrund der geheimnisvolle Vulkankegel des Vesuv und direkt unter mir die roten Dächer der Altstadt.
[Atmo: Straßenlärm, Vespa-Roller]
Dort unten allerdings, in den schmalen Gassen, regiert die Anarchie. Motorroller, Autos, Fußgänger und Straßenhändler auf engstem Raum. Ein ständiges Miteinander, Nebeneinander, Gegeneinander. Doch für uns Mitteleuropäer unvorstellbar – es geht fast immer gut. Unfälle sind die Ausnahme. Das gilt auch für die Spaccanapoli, die Hauptschlagader Neapels. Kaum breiter als die übrigen Gassen, aber ungleich berühmter.
[O-Ton Salvatore Calzanella:]
"La Spaccanapoli e famosa perché ...
Die Spaccanapoli ist so berühmt, weil hier im Laufe der Jahrhunderte ständig neue Bauten entstanden, doch die kerzengerade Linie wurde nie durchbrochen. Obwohl sich Neapel ständig veränderte, wurde sie nie angetastet. Die Architekten waren sich der Struktur dieser Stadt bewusst, die schon 600 vor Christus von den Griechen gegründet wurde.
... sei secoli avanti Cristi."
Und Salvatore Calzanella vom Fremdenverkehrsamt zeigt mir die vielen Sehenswürdigkeiten um die Spaccanapoli herum: Kirchen, Klöster, Palazzi und die Katakomben des antiken Neapolis. Ich bin beeindruckt, die Zuneigung wächst. Aber echte Leidenschaft entfachen nicht etwa die herrlichen Baudenkmäler, sondern die Gassen der Altstadt selbst. Trotz – oder gerade wegen des Chaos', das dort herrscht. Anderen Mitteleuropäern ergeht es offenbar ähnlich.
[O-Töne österr. Studenten:]
"Geheimtipps sind sicher die kleinen Straßen, die in keinem Reiseführer stehen, und dort die winkligen Hinterhöfe, wo dann ineinander verschlungene Doppeltreppen und Stiegenhäuser sind und ähnliche Dinge, die man so auf Anhieb nicht findet."
"Gerade Neapel is' eine Stadt, die nicht von den Prunkstraßen lebt, sondern eben in die kleinen Gassen gehen und auch in Viertel, die nicht so bekannt sind, die nicht so überlaufen sind! In kleine Trattorien, in kleine einheimische Lokale und solche Sachen."
Denn dort, wo der Putz bröckelt, wo die Wäscheleinen von Hauswand zu Hauswand gespannt sind, wo es nach frisch gefangenem Fisch riecht ebenso wie nach Abgas und Müll, dort zeigt Napoli sein wahres Ich. Eine überaus vitale, aber keine makellose Schönheit. Vom Leben gezeichnet, deshalb nicht weniger attraktiv, sondern umso liebenswerter. Also doch Neapel sehen und sterben?
[O-Töne österr. Studenten:]
"Äh, ich würd' mal sagen, es gibt noch einige andere Flecken auf der Welt, die ich zuerst sehen muss, bevor ich sterben will."
"Kann ich vom Grundmotiv her nicht zustimmen. Am besten gar nicht sterben!"
Nun, sterben geht mir auch ein bisschen zu weit. Aber Neapel sehen auf jeden Fall. Das kann ich mit Gewissheit sagen. Dazu hören, riechen und schmecken! Aber das ist eine andere Geschichte ...
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