Danzig (Polen)
DEUTSCH-POLNISCHE DRAMEN VOR HANSEATISCHER KULISSE
Die Hafenstadt Danzig (polnisch: Gdańsk) an der Ostsee war Jahrhunderte lang die Bühne für deutsch-polnische Dramen. Von hanseatischen Kaufleuten im Hochmittelalter gegründet, führte sie meist ein Eigenleben, auch wenn sie formal anderen Herren unterstand: dem Deutschen Ritterorden, dem polnischen König, dem König von Preußen oder dem Deutschen Kaiser. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Danzig ganz offiziell ein unabhängiger Stadtstaat mit polnischen Sonderrechten, ehe Nazi-Deutschland die Freie Stadt "heim ins Reich" holte. Nach dem Zweiten Weltkrieg fiel Danzig an Polen, die allermeisten Deutschen mussten die Stadt verlassen. Doch die zerstörte hanseatische Kulisse wurde wiederaufgebaut. Und heute (Stand: Oktober 2015) ist die Zeit der Dramen (hoffentlich) endgültig passé. Aus dem einstigen Gegeneinander wird zunehmend ein Miteinander.
Reportage (nur für diese Webseite; Kurzfassung für Radio SWR4 RP, 17.01.2021):
[Gesang:]
"Ich kann nicht mehr anders und schweige nicht mehr,
Nein, was ich da sehe, lebt in meinem Herzen.
Du als beste Freundin, ich liebe dich sehr,
Du bist die schönste der Städte der Welt."
Ihre Liebe zu Danzig ist nach wie vor groß. Eine kleine deutschsprachige Minderheit pflegt bis heute ihre Kultur. In ihrem Vereinsheim im Stadtteil Langfuhr (polnisch: Wrzeszcz) – singen sie gemeinsam und plaudern bei Kaffee und Kuchen über alte Zeiten.
Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs lebten in Danzig fast ausschließlich Deutschstämmige. Doch der 1. September 1939 war für sie der Anfang vom Ende. Als das Schlachtschiff "Schleswig-Holstein" frühmorgens die polnische Festung Westerplatte im Danziger Hafengebiet unter Beschuss nahm, nahm auch das Verhängnis seinen Lauf.
"Seit 5 Uhr 45 wird zurückgeschossen", hat Hitler damals behauptet. Aber nichts daran stimmte, nicht einmal die Uhrzeit, meint unsere polnische Stadtführerin Joanna Kauder in ihrer ironisch-schnodderigen Art:
[O-Ton Joanna Kauder:]
"Die Historiker streiten bis heute. Da steht 4:45 Uhr, 46, 47, 48 und 49. Also, die können sich irgendwie nicht einigen, wann der Zweite Weltkrieg wirklich angefangen hat. Ich sag's einfach: dreiviertel fünf. Und die Jungs von dem Wachtposten wollten eigentlich schon nach Hause gehen, ihr Dienst war zu Ende, aber da wurden sie wirklich angegriffen, haben sich umgedreht und haben zurückgeschossen. Hitler hat's falsch verstanden. In Wirklichkeit haben wir zurückgeschossen. Na ja, das sind so Kleinigkeiten."
Auf der Halbinsel Westerplatte erinnern heute Schautafeln und ein Ehrenmal an die Geschehnisse von damals. Die polnischen Soldaten, die sich immerhin sechs Tage lang der deutschen Übermacht erwehrten, sind längst zu Kriegshelden stilisiert worden.
Das Gleiche gilt für die Verteidiger des polnischen Postamts in der Innenstadt von Danzig, dem zweiten Schauplatz des Kriegsbeginns. Die Postbeamten waren fast alle Reserveoffiziere. Sie hatten einen Überfall der Deutschen bereits erwartet und fleißig Waffen gehortet.
[O-Ton Joanna Kauder:]
"Und tatsächlich, sie wurden pünktlich mit der Westerplatte angegriffen. Und da ist auch so eine Sache, wo der Hitler sich vertan hat, weil die haben wirklich gedacht, ein Stündchen, so ein Gebäude, das kann doch nicht länger dauern, das wird schon passen. Aber nein, es hat elf Stunden gedauert."
Mit Flammenwerfern wurden die wehrhaften Postler schließlich zur Kapitulation gezwungen. Nur wenige überlebten den Angriff.
Knapp sechs Jahre später hatten die Deutschen den Krieg verloren und mussten aus Danzig fliehen. Sowjetische Truppen legten die einst stolze Hansestadt in Schutt und Asche. Die aus dem Osten vertriebenen Polen, die hier angesiedelt werden sollten, fanden nichts als rauchende Trümmer vor.
[O-Ton Joanna Kauder:]
"Das alles, was wir uns gleich hier zusammen anschauen werden, ist nichts anderes als die schönste Theaterkulisse der Welt, weil das wurde alles nach '45 wiederaufgebaut. Ende '45 hatten wir schon die ersten 170 Baustellen gehabt, '53 waren wir schon mit dem Langen Markt und der Langgasse quasi fertig, aber wir basteln an dieser Stadt immer noch, den Russen sei Dank."
Längst aber strahlt das Stadtzentrum wieder im Glanz der mittelalterlichen Backsteingotik. Liebevoll restauriert wurden auch die für Danzig typischen Beischläge – das waren Terrassen vor den prächtigen Fassaden mit Freitreppen und künstlerisch gestalteten Geländern.
[O-Ton Joanna Kauder:]
"Das war eine Zierde, und, meine Lieben, es war auch sehr praktisch im Sommer. Die Häuser waren sehr tief, und sie hatten einen Innenhof, das wurde gewerblich genutzt, also wenn man ungestört das Weinchen genießen wollte, hat man es hier gemacht, auf diesen Beischlägen, im Baumschatten, weil hier noch riesengroße Bäume gestanden sind, und genau diese Beischläge haben in dieser Gasse wie durch ein Wunder noch überlebt. Was glauben Sie, wo hat die erste Verfilmung von 'Buddenbrooks' von Thomas Mann stattgefunden? – Ja, und nicht in Lübeck!"
Besonders schön sind die Beischläge in der Frauengasse. An ihrem oberen Ende steht die mächtige Marienkirche, die größte Backsteinkathedrale der Welt. Sie bot einst Platz für 25.000 Gläubige und zeugt auch vom Reichtum der alten Hansestadt.
[O-Ton Joanna Kauder:]
"1343 haben sich die Ratsherren gedacht: Eigentlich haben wir genügend Steuergelder beisammen, wir könnten uns eine klitzekleine Kathedrale leisten. Gesagt, getan, sie haben angefangen zu bauen, zu bauen, zu bauen, zu bauen, zu bauen, zu bauen, und nach mickrigen 159 Jahren waren wir fertig, und das finde ich eine tolle Leistung – am Kölner Dom wird ja immer noch gebastelt."
Am unteren Ende der Frauengasse tritt man durch das Frauentor und steht am Ufer der Mottlau kurz vor ihrer Mündung in die Weichsel. Hier war zu Hanse-Zeiten der Hafen von Danzig. Heute liegen nur noch Ausflugsschiffe am Kai. Gleich zur Linken prangt die Rekonstruktion des alten Krantors. Es gilt als Wahrzeichen der Stadt und diente früher dazu, die Mastbäume der Schiffe aufzurichten oder schwere Fracht zu heben.
[O-Ton Joanna Kauder:]
"Wir haben, glaube ich, alle schon mal einen Hamster im Hamsterrad gesehen, nicht wahr, und dann weiß man sofort, wie die Konstruktion da drin ausschaut. Unten zwei riesengroße Hamsterräder, sechs Meter Durchmesser, oben noch so ein Pärchen: 6,5 Meter, und, meine Damen, wir waren in dieser Stadt schon immer tierlieb gewesen – hier sind keine Esel rummarschiert, sondern Männer! Vier Männer rechts, vier Männer links, und die haben's durch trampeln geschafft, zwei Tonnen auf elf Meter hochzunehmen und die oberen Herrschaften zwei Tonnen auf 27. Wenn man die Seile verknotet hat, konnte man über vier Tonnen hochnehmen – für damalige Zeit, 14. Jahrhundert, schon eine tolle Leistung."
Heute übernehmen das moderne Stahlkräne, die schon flussabwärts zu erkennen sind. Denn dort befindet sich das Gelände der ehemaligen Lenin-Werft, wo 1980 die freie Gewerkschaft Solidarität gegen die kommunistischen Machthaber Polens rebellierte. Nach einem landesweiten Aufstand, der hier seinen Anfang nahm, wurde die Gewerkschaft unter ihrem Führer Lech Wałęsa offiziell anerkannt, und es herrschte vorübergehend eine Art "Danziger Frühling":
(O-Ton Joanna Kauder:)
"Das war, ich glaube, wirklich die schönste, die befreiendste Zeit, was ich selbst in Polen erlebt habe. Wildfremde Menschen haben sich an den Hals geschmissen, abgebusselt und so weiter und so weiter. Man hatte das Gefühl, jetzt geht's endlich besser weiter. Es wird harte Arbeit sein, das hat er auch immer gesagt, wir müssen noch härter arbeiten, als wir bis jetzt gearbeitet haben, aber wir arbeiten jetzt auch für uns!"
Ein futuristisch anmutendes Museum auf dem Werftgelände erinnert an die Entwicklungen dieser Zeit. Zwar wurde 16 Monate nach dem Aufstand das Kriegsrecht ausgerufen und die Uhr wieder zurückgedreht, aber der schleichende Untergang des kommunistischen Regimes war eingeläutet. 1989 schließlich kam die endgültige Wende für Danzig, für Polen und für den gesamten Ostblock.
Davon profitiert hat auch die deutsche Minderheit. Sie durfte fortan wieder ungehindert ihre Sprache pflegen. Viele reisten trotzdem in den Westen aus. Andere blieben, wie Roland Hau, der Vorsitzende des Kulturvereins. Seine Gründe bringt er auf einen einfachen Nenner:
[O-Ton Roland Hau:]
"Meine Heimat ist hier."
Zwar würde er sich mehr Deutsch-Unterricht in den Schulen wünschen und mehr zweisprachige Beschilderung. Aber bis das gegenseitige Misstrauen ganz überwunden ist, wird wohl noch etwas Zeit vergehen. Und bis dahin trifft sich die Minderheit weiter in ihrem Vereinshaus und singt gemeinsam nostalgische Lieder:
[Gesang:]
"...denn ich liebe, ich liebe so sehr,
Denn ich liebe, ich liebe, ich liebe so sehr.
Figaro, Figaro, Figaro, ich liebe so sehr."
[Applaus]
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Wo die Blechtrommel erklingt
- Danzig und Günter Grass
Auf einer Parkbank im Danziger Stadtteil Langfuhr/Wrzeszcz sitzt eine kleine Bronzefigur mit einer Trommel auf dem Schoß. Es ist eine Hommage an den kleinwüchsigen Oskar aus dem Roman "Die Blechtrommel" von Günter Grass. Der Nobelpreisträger für Literatur wurde 1927 in Langfuhr geboren. Seine Eltern betrieben im Labesweg (polnisch: Ulica Lelewela) einen Kolonialwarenladen. Den gibt es längst nicht mehr. Aber vor dem unscheinbaren Gebäude steht eine Hinweistafel in polnischer, deutscher und englischer Sprache: "In diesem Haus verbrachte der Schriftsteller seine Kindheit und Jugend. Es ist auch das Elternhaus des kleinen Oskar Matzerath, des Protagonisten der 'Blechtrommel'."
Günter Grass hat wie kein anderer das alte Danzig literarisch konserviert und nach dem Krieg wiederaufleben lassen. Vor allem in der "Blechtrommel", aber auch in anderen Romanen wie "Katz und Maus" oder "Hundejahre". Deshalb wird er nicht nur in Deutschland verehrt, sondern auch in Polen, versichert Stadtführerin Joanna Kauder. Was genau sie über Grass und sein Werk sagt, erfahren Sie hier:
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