Venezuela 5


LANGE FINGER
- menschliche Gefahren im Großstadt-Dschungel

Von tierischen Gefahren, die in Venezuela auf arglose Opfer lauern, war schon viel die Rede. Aber nicht nur im Urwald muss man sich in Acht nehmen, auch der Dschungel der Großstadt kann tückisch sein. Dort allerdings hat man es eher mit menschlichen Gefahren zu tun. Das Gefälle zwischen Reich und Arm ist groß. Kritiker der sozialistischen Regierung von Präsident Hugo Chávez meinen sogar, es sei größer geworden, seitdem sie im Amt ist. Auch die Kriminalität sei spürbar gewachsen. Jedenfalls gehören Raubüberfälle und Taschendiebstähle in Caracas und anderen großen Städten zum venezolanischen Alltag. Touristen sind nicht stärker gefährdet als Einheimische, aber auch sie gehören gelegentlich zu den Opfern von Straßenräubern, Langfingern und sonstigen kriminellen Elementen.

Reportage (Radio hr1, 19.02.2006):

[zum Anhören klicken: komplette Reportage]

[Atmo: Feuerwerksböller]

Es hört sich an wie eine wilde Schießerei, was uns in Caracas morgens aus dem Schlaf reißt. Erschrocken schauen wir aus dem Hotelfenster, aber es ist nichts zu sehen. Später erfahren wir, es waren nur Böller, die irgendein Witzbold gezündet hat. Kommt angeblich häufig vor. Dennoch erinnert mich die Knallerei an einen Überfall, den ein Kollege vor ein paar Jahren in Venezuela erlebt hat. Er saß mit anderen Touristen im Innenhof einer Pension:

(O-Ton Tourist:]
"Auf einmal sind von drei oder vier Seiten bewaffnete Jungs, so mit Pumpgun und Pistole, auf uns zugesprungen. Einer hat gerufen: 'Dinero!' – Geld! Ein Bekannter hat noch verstanden: 'Te quiero!' – Ich liebe dich. Und dann hat er erstmal mit dem Gewehrkolben einen über die Augenbraue gekriegt. Das hat dann geblutet, wir waren natürlich super geschockt und dann wollten die Geld haben."

Die Beute beschränkte sich auf insgesamt zwanzig, dreißig Mark, weil keiner mehr einstecken hatte. Und das war goldrichtig. Wertsachen sollte man nie mit sich herumtragen – schon gar nicht offen zur Schau stellen. Dies schärft uns auch Olli Schmitz, unser Reiseleiter, ein. Und er gibt noch weitere Sicherheitshinweise:

[O-Ton Oliver Schmitz:]
"In größeren Städten einfach nicht dahin, wo man sich nicht auskennt, bei Nacht sowieso nicht ausgehen, Einheimische fragen, wo geht man lieber nicht hin, keine Seitengassen, natürlich nicht in die 'barrios', das ist eigentlich schon das Wichtigste."

Mit gemischten Gefühlen bummeln wir anschließend durch die Altstadt von Caracas. In jedem, der uns begegnet, wittern wir den potenziellen Verbrecher, der uns nach Leib und Leben trachtet. Erst allmählich stellen wir fest, dass die Leute eigentlich alle sehr freundlich sind, unaufdringlich, kaum Notiz von uns nehmen. Keiner wird ausgeraubt, keiner wird beklaut. Die Angst schwindet rasch dahin.

Armenviertel am Stadtrand
Wachmann vor Hotel
Rottweiler "Adolf"

[O-Töne Touristen:]
"Das Unsicherheitsgefühl hier in Caracas, in der Fußgängerzone, hab' ich überhaupt nicht. Das ist wahrscheinlich Hysterie."
"Ich hab' hier das Gefühl, so sicher zu sein, wie in jeder anderen Großstadt auch."
"Bis jetzt ist es okay. Aber wer weiß, wie es wird, wenn es dunkel wird."

Denn ganz aus der Luft gegriffen sind die Warnungen gewiss nicht. Viele Grundstücksmauern sind zusätzlich mit Stacheldraht oder Elektrozäunen gesichert. Vor jedem besseren Geschäft, vor jedem Hotel, stehen Security-Leute mit Schusswaffen. Und nicht nur hier in der Hauptstadt. Sogar in der Ferienanlage Hato Nuevo auf dem Land läuft ein bewaffneter Wachmann mit einem Furcht einflößenden Rottweiler herum. Nicht unbedingt beruhigend.

[O-Töne Touristen:]
"Das Sicherheitsgefühl wird nicht erhöht. Irgendwie ist es ein komisches Gefühl, wenn man so Leute in 'ner Ferienanlage rumlaufen sieht."
"Ich weiß nicht, wo die Kriminalität hier herkommen soll. Ich glaub' nicht, dass irgendwelche Banden von den Städten hierherfahren und versuchen, die Touristen auszurauben."

Ein bisschen Macho-Gehabe ist also wohl auch dabei. Wir sind schließlich in Lateinamerika. Aber eines steht fest: Venezuela ist kein Platz für Susi Sorglos. Grund zur Panik besteht trotzdem nicht. Von tödlichen Übergriffen auf Touristen ist in den letzten Jahren nichts bekannt geworden. Wer durch die Straßen der Städte schlendert, sollte eben auf sich und seine Sachen aufpassen. Und selbst wenn es irgendwo an der Ecke knallt, handelt es sich sehr wahrscheinlich um einen harmlosen Böller.

[Atmo: Feuerwerksböller]

 

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REKORD-EISDIELE
- die "Heladería Coromoto" in Mérida

Die Städte wie Caracas gehören sicher nicht zu den größten Attraktionen Venezuelas. Aber auch da gibt es Ausnahmen, die die Regel bestätigen. Mérida am Rande der Anden im Westen des Landes ist so eine. Schöne alte Gebäude aus der Kolonialzeit, Kirchen, Parks – die Hauptstadt des gleichnamigen Bundesstaats mit gut 300.000 Einwohnern ist durchaus einen Abstecher wert. Die meisten Touristen kommen wegen der imposanten Seilbahn zum 4.700 m hohen Pico Espejo – sie galt zumindest bis 2008 als höchste der Welt. Und noch einen anderen Rekord kann Mérida für sich reklamieren: die Eisdiele mit den meisten Sorten der Welt. Sie steht sogar im Guinness-Buch der Rekorde. 593 (!) waren es, als die "Heladería Coromoto" 1996 erstmals in das Verzeichnis aufgenommen wurde. Seither hat sich der Inhaber Manuel da Silva Oliveira immer neue Geschmacksrichtungen einfallen lassen. 2017 waren es schon 870 (!). Neben den Klassikern Vanille, Erdbeer und Schokolade gibt es exotische wie Knoblauch, Schinken oder Spaghetti mit Käse. Einige haben phantasievolle Namen: "Miss Venezuela", "Ewige Liebe" oder "Jurassic Park". Wer genau wissen will, was sich dahinter verbirgt, muss sich eben ein Herz fassen und einfach ausprobieren. Allerdings sind nicht alle Sorten immer vorrätig. Meist nur 50 verschiedene gleichzeitig. Täglich wird die Angebotspalette neu zusammengestellt. Wegen der vielen wirtschaftlichen Krisen, die Venezuela in den vergangenen Jahrzehnten durchgemacht hat, war es oft schwierig alle nötigen Zutaten zu beschaffen. Sogar Milch ist häufig knapp. Deshalb musste die "Heladería Coromoto" immer mal wieder vorübergehend schließen, aber bald darauf wurde sie wiedereröffnet. Ihr kreativer Besitzer hat niemals aufgegeben. Allerdings ist er nicht mehr der Jüngste. Manuel da Silva Oliveira geht auf die 90 zu. Wenn sich kein geeigneter Nachfolger findet, sind die Tage der Rekord-Eisdiele von Mérida wohl gezählt.

 

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