Kanadas Westen 4

KRAUT-KÖPFE
- Kimberley: wo die Kuckucksuhr jodelt

Haben Sie Hamburger und Cola satt, englisches Kauderwelsch über? Nach ein paar Wochen überm großen Teich packt so manchen Mitteleuropäer das Heimweh. Da will er endlich mal wieder die eigene Muttersprache hören. Da träumt er nachts von kernigem Schwarzbrot, einem würzigen Schinken und dazu einem "richtigen" Bier. – Doch dafür muss in den kanadischen Rocky Mountains keiner vorzeitig den Rückflug antreten, denn, Gott sei Dank, es gibt ja Kimberley! Die kleine Stadt in den Bergen von Britisch-Kolumbien nennt sich stolz "The Bavarian town in the Canadian Rockies". Und das nicht von ungefähr. Da spricht man Deutsch, und all die leckeren Köstlichkeiten, die man wochenlang entbehren musste, werden dort selbstverständlich angeboten. Das und noch viel mehr, was ein klein wenig Heimatgefühl aufkommen lässt.

Titelfoto: "Echt" bayerisches Flair in Kimberley

Reportage (Radio SDR1, 1992):

[Atmo: Akkordeon-Musik]

Alpenländische Töne immer und überall. Im Sommer ist Kimberley Schauplatz einer ganzen Reihe von Volksmusik-Festivals. Aber auch an normalen Tagen wird man auf Schritt und Tritt von volkstümlichen Klängen begleitet. Urs zum Beispiel, der bärtige Schweizer mit Kniebundhose und Tirolerhut, sitzt täglich in einem Straßenrestaurant und spielt Akkordeon. Das Restaurant ist eines von vielen, das so vertraute Speisen anbietet wie Apfelstrudel und Wiener Schnitzel. Der Inhaber ist ebenso in Deutschland geboren wie Willy Mulhaupt, der Vorsitzende des Gaststättenverbands von Kimberley. Er wacht darüber, dass die Speisen nicht nur deutsche Namen haben, sondern auch so schmecken.

[O-Ton Willy Mulhaupt:]
"Ich hab' deutsches Sauerkraut hier, wir machen Sauerkraut selber. Wir haben Spätzle. Wir machen alles – Rösti ... Ein klein wenig von Europa, äh, das Beste von Europa."

Auch das kanadische Nationalgetränk, der Kaffee, hat im Geschmack eine gewisse Ähnlichkeit mit dem, was man hierzulande unter Kaffee versteht. Das kanadische Gebräu dagegen erinnert eher an schwarz gefärbtes Wasser. Aber nicht mit Willy.

[O-Ton Willy Mulhaupt:]
"Ich trink' Kaffee de ganze Tag, und ich will 'n e klein wenig stärker trinken. Ich will nicht Wasser – ich hasse Wasser."

Zu Beginn der Siebziger Jahre war Kimberley ein kanadisches Bergdorf wie viele andere. Dann versiegte die Haupteinnahmequelle, eine Blei- und Zinkmine. So kam es, dass sich die Bewohner zusammensetzten und überlegten, wie man Touristen anlocken könnte. Berge und Schnee waren vorhanden, aber das hatten andere auch. Kimberley wollte sich unterscheiden. Schon damals war der Anteil an Deutschstämmigen groß. Also machten sie ihren Einfluss geltend und verwandelten Kimberley in ein Skidorf nach alpenländischem Muster. Die Häuser wurden umgebaut, das Zentrum "Platzl" getauft und die Speisekarten neu geschrieben. Mit Erfolg. Nicht nur den kanadischen und amerikanischen Touristen gefällt's, auch die deutschen kommen offenbar gern.

 

Gasthaus am "Platzl"
Kuckucksuhr mit "Happy Hans"
"The Old Bauernhaus"

[O-Töne Touristinnen:]
"Es schaut wirklich anders aus, ja, aber es is' so 'n bisschen 'ne kleine Erinnerung an die Heimat vielleicht. Ich hätt's mir 'n bisschen größer vorgestellt, doch so isses ganz nett."
"Ich finde es ja nicht schlecht, wenn es auch mitunter ein wenig kitschig wirkt für uns. Aber es ist nett. Ich finde, es sollte gemacht werden, wenn schon deutsche Leute hier sind und viele Auswanderer aus Europa und aus Deutschland. Dann ist es gut, wenn eine solche Insel hier besteht."

Die Deutschen drücken halt beim Kitsch ein Auge zu, die Kanadier kommen hauptsächlich deswegen. Hauptanziehungspunkt von Kimberley ist die angeblich größte Kuckucksuhr der Welt. Sie steht mitten auf dem "Platzl", ist knapp vier Meter hoch und begeistert vor allem Kinder. Wenn man nämlich ein 25-Cent-Stück einwirft, geht ein Türchen auf und "Happy Hans" erscheint. "Happy Hans" ist kein Kuckuck, sondern das Maskottchen von Kimberley, eine Puppe in Lederhosen, die jodelt.

[Atmo: jodelnder "Happy Hans"]

Original-bayerisch ist eigentlich nur das "Old Bauernhaus", ein altes Holzhaus, das die Besitzer Stück für Stück vom Chiemsee nach Britisch-Kolumbien transportieren ließen. Dort wurde es wieder aufgebaut. Es dient jetzt als zünftige Skihütte, und die Besitzer, zwei junge Bayern, können ihren kanadischen Traum in vertrauter Umgebung verwirklichen. Aber selbst dieses Original täuscht nicht darüber hinweg, dass Kimberley eben nur eine bayerische Stadt aus der Retorte ist.

[O-Ton Touristin:]
"Ich find's hier sehr schön, bloß eins, auf das ich aufmerksam gemacht habe, ist, dass es zu wenig Blumen auf den Balkonen gibt. Hier müssten doch so wie in Bayern viel mehr Blumen sein. Das ist mir aufgefallen. Es ist zu wenig. Die Balkone sind alle leer, ohne Blumen."

[Musik: Alpen-Jodler]

 

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SO KLEIN IST DIE WELT
- unerwartete Begegnung in den Rocky Mountains

Bei einer Tasse Kaffee sitze ich Willy Mulhaupt gegenüber, dem Vorsitzenden des Hotel- und Gaststättenverbandes von Kimberley, dieser "bayerischen" Stadt in den kanadischen Rocky Mountains. Da geht die Tür auf und ein älterer Herr mit schlohweißen Haaren betritt den Raum. Willy springt auf und begrüßt ihn herzlich auf Deutsch: "Hallo, Frank! Setz' dich zu uns."  Die beiden tauschen kurz die lokalen Neuigkeiten aus. Dabei spricht Frank mit einem Akzent, der mir sehr bekannt vorkommt. Könnte ein gebürtiger Hesse sein oder so. Da unterbreche ich die beiden:
"Kann es sein, dass Sie aus der selben Gegend stammen wie ich?" [An das hier übliche Du, auch unter eigentlich Fremden, kann ich mich noch nicht so recht gewöhnen.]
"Warum, wo biste dann her?"
"Aus Mainz."
"Waaas? Aus Meenz? Isch bin in Bretzenheim [ein Stadtteil von Mainz] geborn!"
"Waaas? In Bretzenheim? Ich wohne in Bretzenheim."
"Waaas?" Und Frank kriegt sich gar nicht wieder ein. So ein Zufall! Zwei Bretzenheimer zur gleichen Zeit an diesem fernen Ort!
In den Fünfziger Jahren sei er von Mainz nach Kanada ausgewandert, berichtet er, später dann als Ruheständler nach Kimberley gezogen, weil hier so viele Deutschstämmige leben. In Deutschland selbst ist er schon seit Jahrzehnten nicht mehr gewesen. Seine Eltern hätten früher eine Kneipe am Mainzer Gautor geführt. Ob es die heute noch gebe? Ich weiß es nicht, verspreche aber Nachforschungen anzustellen. Sein Nachname sei Stauder, erzählt Frank weiter. Das sei damals ein häufiger Name in Bretzenheim gewesen. Und ist es noch immer, bestätige ich. Aber nahe Verwandtschaft sei wohl nicht darunter, meint er. Und dann springt Frank plötzlich auf, zerrt mich hoch und nimmt mich mit auf eine spontane Spritztour rund um Kimberley. Dabei zeigt er mir auch die Baustelle, wo sein neues Haus entsteht. Da will er seinen Lebensabend verbringen. Später lädt er mich noch auf einen Wein ein und nimmt mir das Versprechen ab, sein geliebtes Mainz zu grüßen.
Die ehemalige Kneipe seiner Eltern gibt es nicht mehr, muss ich ihm leider von zu Hause aus mitteilen. Noch jahrelang schickt mir Frank eine vierteljährlich erscheinende Broschüre mit dem Titel "Beautiful British Columbia". Gerne wäre ich nochmal hingefahren, aber geschafft habe ich es nicht. Inzwischen ist Frank verstorben. "Old Bretzenheim" hat er nicht mehr wiedergesehen.

 

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